Wenn eine Koalition zerbricht, gilt der selbst auferlegte Koalitionszwang nicht mehr. Der Nationalrat lebt dann wieder auf. Die Parlamentsparteien suchen sich für jede Gesetzesabstimmung Partner für eine Mehrheit. Von manchen wird dieses „freie Spiel der Kräfte“ als Zeitraum exzessiver und instabiler Steuergeldverschwendung bezeichnet. Der Fiskalrats-Chef Christoph Badelt etwa nannte die demokratischen Beschlüsse des Parlaments zuletzt abwertend „Wahlzuckerl“. Auch der Bundeskanzler brachte am 17. Juni 2024 als Grund für seine Entscheidung, die aktuelle Koalition bis zum Wahltermin weiterführen, dieses Argument vor.

Verteilungsperspektive ignoriert

In der Analyse des Fiskalrats werden lediglich die budgetären Kosten aufgezählt. Für eine faire Beurteilung des freien Spiels der Kräfte muss man jedoch jede beschlossene wirtschaftspolitische Maßnahme einzeln betrachten und auf ihre Sinnhaftigkeit prüfen. Es fällt auf: Gerade während des „freien Spiels der Kräfte“ hat der Nationalrat vor allem wirtschafts- und sozialpolitische Beschlüsse getroffen, die sozialpolitisch sehr treffsicher sind. Drei Viertel der getroffenen Maßnahmen richten sich an das ärmste Drittel – Menschen mit niedrigen Einkommen – bzw. an die ärmsten zwei Drittel (niedrige und mittlere Einkommen)1. Ihre Einkommen werden – in Relation zu ihrem bisherigen Einkommen vor der Maßnahme – am stärksten gestützt. Die Verteilungswirkung der Wirtschafts- und Sozialpolitik während des freien Spiels der Kräfte ist ausgezeichnet. Das Geld kommt bei den Menschen an, die es am meisten brauchen. Das als Wahlzuckerl zu titulieren, ist falsch.

Studienbeihilfe, Familienbeihilfe und Pensionen erhöht

Unter den Maßnahmen des freien Spiels der Kräfte ist etwa eine Erhöhung der Studienbeihilfe. Sie ermöglicht jungen Menschen, deren Eltern ihren Kindern kein Studium bezahlen können, ein Einkommen während des Studiums, um Studium und Lebenshaltungskosten zu finanzieren. Die Einführung einer 13. Familienbeihilfe im Jahr 2008 stützt seitdem ebenfalls vor allem die Einkommen im ärmsten Drittel der Einkommensbezieher:innen, darunter viele alleinerziehende Mütter. Die gestaffelte Pensionserhöhung 2019 wiederum wirkte für die Einkommen im ärmsten Drittel, also Kleinpensionist:innen, am stärksten.

Die größten Brocken im freien Spiel der Kräfte

Das budgetär größte Gesetz macht mit rund 515 Millionen Euro im Jahr 2024 die Valorisierung des Pflegegeldes aus. Seit 2019 wird das Pflegegeld an die laufende Inflation angepasst. Gäbe es dieses Gesetz heute nicht und das Pflegegeld wäre in den vergangenen Jahren nicht angepasst worden, hätte das Pflegegeld ein Viertel seines Werts verloren. Von der Valorisierung haben, wie eine Analyse mit EU-SILC Daten zeigt, Haushalte mit geringerem Einkommen in Relation zu ihrem Einkommen am stärksten profitiert.

Absetzbeträge erhöht

Den zweitgrößten Umfang hat die Anhebung des Verkehrsabsetzbetrags und die Erhöhung der Rückerstattung der Sozialversicherungsbeiträge für Personen mit geringem Einkommen. Das kostet – auf 2024 umgerechnet – rund 500 Millionen Euro. Steuerabsetzbeträge wirken grundsätzlich progressiv. Sie sind für alle gleich hoch. In Relation zum Einkommen ist die Steuerersparnis für Personen mit geringem Einkommen aber am höchsten. Eine Einschränkung gibt es dabei aber. Erhält eine Person so wenig Gehalt, dass sie ohnehin keine Einkommenssteuer zahlt, kommt der Absetzbetrag nicht zur Geltung. Diesen Personen dient die Erstattung von bis zu 55 Prozent ihrer Sozialversicherungsbeiträge. Daher begünstigt die Maßnahme insgesamt Personen aus dem ersten und zweiten Einkommensdrittel – relativ zu ihrem Einkommen – am stärksten.

Mehrwertsteuer auf Medikamente reduziert

Die drittgrößte Maßnahme aller analysierten Gesetze, die während eines „freien Spiels der Kräfte“ beschlossen wurde, stammt aus dem Jahr 2008. Damals wurde die Umsatzsteuer von Medikamenten von 20 auf 10 Prozent beschlossen. Gäbe es dieses Gesetz heute nicht, wären rund 490 Millionen Euro mehr im Staatshaushalt. Von dem Gesetz profitieren wiederum geringe Einkommen am stärksten. Die Ersparnis in der Apotheke ist für jede Person gleich hoch. Personen mit geringem Einkommen profitieren von der Ersparnis in Relation zu ihrem Einkommen am stärksten. Der Einkommenseffekt, der dazu führt, dass reichere Personen mehr Medikamente kaufen (können), ist aufgrund der inelastischen Nachfrage von Medikamenten gering. Insgesamt profitierten von dieser Maßnahme also insbesondere Personen mit geringen und mittleren Einkommen.

Wirtschaftspolitik von Koalitionsregierungen nicht zwingend besser

Die Kritik, dass im freien Spiel der Kräfte keine Gegenfinanzierung stattfand, ist richtig. Doch diese Kritik gilt auch für viele Maßnahmen von Koalitionsregierungen. Die aktuelle Bundesregierung hat fast nie eine Gegenfinanzierung für ihre Ausgaben beschlossen. Während die aktuelle Bundesregierung in ihre Regierungszeit mit einem gesamtstaatlichen Überschuss 2019 von 0,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts startete, beendet sie ihre Legislaturperiode 2024 mit einem Defizit von voraussichtlich knapp über 3 Prozent.

Dazu kommt: Die Verteilungswirkung der Maßnahmen von Koalitionsregierungen ist oftmals problematisch. Große Brocken der wirtschaftspolitischen Maßnahmen der aktuellen Bundesregierung kommen Besserverdiener:innen und Eigentümern großer Unternehmen zu gute. Während der Corona-Pandemie wurde – hochgerechnet – rund die Hälfte der Unternehmen überfördert. Vom Abgelten der kalten Progression profitieren wiederum die mittleren und oberen Einkommen – relativ zum Einkommen –  am stärksten. Die Senkung der Gewinnsteuer für Unternehmen ist besonders konzentriert auf die reichsten Eigentümer:innen von Unternehmen: Die größten 3% der Unternehmen nach Gewinn erhalten drei Viertel der Körperschaftsteuer-Senkung. Auch die bisherigen Senkungen der Sozialversicherungsbeiträge für Unternehmen („Lohnnebenkosten“) gingen zu knapp der Hälfte (47,6 Prozent) an die größten Unternehmen des Landes (nach Lohnsumme). Die Abgeltung der kalten Progression kostet den Staat heuer rund 3,7 Milliarden Euro, jene der Körperschaftsteuer bis zu einer Milliarde.

 

1Für die Zuteilung einer Maßnahme zu einem Einkommensdrittel ist das Pro-Kopf-Nettoäquivalenzeinkommen ausschlaggebend. Damit ist das Haushaltseinkommen dividiert durch die gewichtete Haushaltsgröße gemeint. Dem ärmsten Drittel gehören jene Haushalte an, deren Pro-Kopf-Nettoäquivalenzeinkommen unter 2.000 Euro liegt. Haushalte in denen das gewichtete Haushaltseinkommen über 2.000 Euro aber unter 3.500 Euro liegt, gehören dem zweiten (mittleren) Einkommensdrittel an. Zum einkommensstärksten Drittel gehören Haushalte, in denen das Pro-Kopf Nettoäquivalenzeinkommen 3.500 Euro übersteigt.

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